Purpose: Sinnlos in die Zukunft?! (Teil 1)
Nur rund 15 Prozent der deutschen Arbeitnehmer:innen verbinden mit ihrem aktuellen Beruf einen Sinn, heißt es im Buch „Purpose Driven Organizations“ von Franziska Fink und Michael Moeller. Dabei ist etwa die Hälfte der Menschen grundsätzlich eher intrinsisch durch sinnstiftende Tätigkeiten motivierbar als über extrinsische Anreize wie Geld oder einen schicken Dienstwagen. Eine EY-Studie von 2021 fand zudem heraus, dass besonders Frauen wechselbereiter seien, da die patriarchalen Strukturen vieler Arbeitgeber:innen nicht ihren Bedürfnissen, geschweige denn ihrer Qualifikation, Rechnung tragen.
Von New Work bis Purpose-Washing. Rund vier Jahrzehnte nach Frithjof Bergmanns Postulat über New Work ist die Diskussion längst auch im deutschsprachigen Raum angekommen.
Er hatte es Anfang der 1980er in den USA ersonnen, als eine schwere Konjunkturkrise große Arbeitgeber:innen in die Knie zwang und so zigtausende Arbeitsplätze akut in Gefahr waren. Im Grunde ging es dabei weniger um Arbeit als um Freizeit; anstatt die Hälfte der Beschäftigten zu entlassen, sollten die kriselnden Firmen doch lieber alle Arbeitsverträge um die Hälfte der Zeit kürzen. Die andere Hälfte der Zeit sollten sich die Menschen kommunal organisieren, um sinnstiftende Tätigkeiten in ihrer Heimat gemeinsam zu erledigen – staatlich finanziert, versteht sich. Die Idee klang für die Hardliner der neoliberalen USA intuitiv hochgradig kommunistisch und war damit während des ersten Kalten Krieges Tabu.
Seither hat sich einiges geändert. Der zweite Kalte Krieg plagt das globale Handels-, Wirtschafts- und Finanzsystem, in den meisten Staaten des globalen Nordens (bzw. dem „Westen“) schlägt die demografische Bombe ein, wodurch der Fachkräftemangel die Arbeitsmärkte destabilisiert. Europäische Konzepte der Sozialen Marktwirtschaft erweisen sich als krisensicherer sowie menschen- und umweltfreundlicher als unregulierter Neoliberalismus. Darüber hinaus verlassen immer mehr Erwerbstätige den klassischen Arbeitsmarkt und werden Digitalnomad:in, Metaverse-Architekt:in oder Influencer:in.
Apropos Influencertum: An der Casa Fynn Kliemann von Mai 2022 lassen sich sowohl die Macht des Purpose als auch die Fragilität purpose-getriebener Unternehmungen ablesen. Kliemann hat vieles richtig gemacht, was zum Aufbau einer hochgradig motivierten und vor allem mit dem Kern identifizierten Masse nötig ist. Über Kunst, so etwas wie Musik und ein eigenes, sektenähnliches Dorfprojekt („Kliemannsland“) gelang es dem Weltverbesserer, eine ziemlich umfangreiche Horde für seine Weltansicht zu begeistern. Diese kurzfristig sehr loyale Anhängerschaft ist über Nacht zerbröckelt, als bekannt wurde, welche mutmaßlich betrügerischen und neoliberalen Praktiken Kliemann selbst seit Jahren kultiviert hat, während er sich selbst als Robin Hood der Digitalära hat inszenieren und feiern lassen. Anhängerschaft und Fantum in einer schnelllebigen Welt ruhen auf tönernen Füßen. Die Lehre daraus sollte auch Purpose-Apologeten zu denken geben: Die Kosten für unlauteres Purpose-Washing sind hoch.
Sinnlosigkeit von Sinn-Versprechen.
Zurück zum Ausgangspunkt: Sinn und Identifikation. 100 Prozent Übereinstimmung in puncto Werte, Ziele oder Sinn kann es nicht geben. Nicht einmal zwischen zwei Menschen, auch wenn Hollywood und postmoderne Beziehungsratgeber ein anderes Bild zu vermitteln versuchen. „Die Werbung“ ignoriert diese offensichtliche Feststellung jedoch und arbeitet mit allen Mitteln und durchaus erfolgreich daran, Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen. Dasselbe gilt für Arbeitgeber:innen, die mit ideellen Elementen in Stellenausschreibungen behaupten, das Personal könne in ihrem Unternehmen einen Purpose ausleben.
Der Sinn einer Firma kann unmöglich deckungsgleich mit dem persönlichen Sinn einer Person sein. Aber man kann sich natürlich auf einen gemeinsamen Nenner einigen. Die ursprüngliche Idee des Purpose geht tief an den Kern unserer Identität, unseres Charakters. Den auszuleben ist vielmehr ein Lebensprojekt, dessen Entwicklung und Offenbarung sich über Jahrzehnte hinzieht.
Umgekehrt kommen Beschäftigte immer häufiger mit einer übergreifenden Ideologie oder Zielsetzung zu ihren Arbeitgeber:innen, wollen zum Beispiel die Klimakrise durch ihr berufliches Handeln wenigstens nicht noch verschlimmern. Das bedeutet für Anreizsysteme, BahnCards 100 statt Dienstwagen anzubieten, ein Fair- oder Shiftphone statt Apple- oder Samsung-Geräte und mehr als Lippenbekenntnisse bei der Digitalisierung von Prozessen. Doch allein bei dem emotionalen Thema Nachhaltigkeit wird schnell deutlich, wie unterschiedlich verschiedene Menschen einen Begriff mit Inhalt und konkretem Handlungsbedarf füllen können. Die Nachhaltigkeits-Hardliner werden sich gar nicht erst bei Ihnen bewerben, wenn Sie eine gewinnorientierte Firma sind, denn Schuld an all dem ist ja schließlich der neoliberale Kapitalismus.
Eine Stufe weiter haben Sie es vielleicht mit ökologischen Alltagsextremist:innen zu tun, die schon vor dem ersten tiefgründigen Gespräch ungefragt von ihrer selbstverständlich pflanzenbasierten und regionalen Ernährungsweise berichten. Wenn nun jemand, der zwar irgendwie auch Nachhaltigkeit gut und Klimakatastrophe blöd findet, aber gern Fleisch konsumiert und gelegentlich in den Urlaub fliegt, in derselben Firma arbeitet, stellt sich die Frage, wie ernst es der Arbeitgeber denn mit dem Wert „Nachhaltigkeit“ in den Unternehmenswerten meint. Wie bei Kliemann kann das Purpose-Washing daher auch für Arbeitgeber:innen schnell nach hinten losgehen, insbesondere in Ballungszentren, in denen der nächste potenzielle Arbeitgeber nur darauf wartet, hochqualifiziertes Personal abzuwerben.
Purpose ist zum Scheitern verurteilt.
Und genau hier liegt die Krux und der Grund, warum die Purpose-Diskussion unweigerlich scheitern muss: Man kann individualpsychologische Konzepte nicht einfach so auf Organisationen übertragen. Der Sinn eines Unternehmens ist es, Geld zu verdienen; im besten Fall so viel, dass damit die laufenden Kosten gedeckt und bestenfalls Gewinne erzielt werden – nach Steuern, Mieten, Gehältern und Pandemieeinbußen. Der Sinn eines biologischen Wesens ist es, zu überleben und im besten Fall ein paar weitere Bedürfnisse (bis hin zu Ästhetik und Transzendenz) verlässlich decken zu können. Ach ja, und natürlich Fortpflanzung. Wir haben also per se extrem unterschiedliche Wertesysteme. Und das ist auch gut so!
Einer der großen Soziologen des 20. Jahrhunderts, Niklas Luhmann, hat unter anderem die Grundlagen für die moderne Systemtheorie gelegt. Er erklärte bereits in den 1980er Jahren, warum es aus Sicht einer Organisation riskant ist, allen Systembestandteilen vollständige Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Seine Schlussfolgerung in Kürze: Sie werden sich zwangsläufig früher oder später voneinander bzw. vom Kern des Unternehmens entfernen.
Das bedeutet: Wenn Sie als Top-Management entscheiden, dass alle Beschäftigten ab morgen komplett ihren eigenen Sinn suchen und verfolgen dürfen, wäre es auch konsequent, die Arbeitsverträge neu zu formulieren und alles, was nicht auch im BGB steht, zu streichen. Das macht den Vertrag bis auf Datum und Unterschrift weitgehend überflüssig. Umgekehrt wäre es für Sie als Arbeitgeber:in auch logisch, ein neues Anreizsystem für das – dann flexible – Gehalt einzuführen. Es kann gut sein, dass dann die meisten Beschäftigten tatsächlich früher oder später am nächsten Tag zur Arbeit erscheinen, doch es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie mit derselben Vorgehensweise ihren Projekten nachgehen werden. Ihr neues Incentive-System für Gehalt wiederum wird sich möglicherweise eher an Erfolgen orientieren, die sich für die Firma auszahlen. Und schon haben wir den Konflikt.
Nachträglich lässt sich entsprechend nur schwer ein Purpose für ein bestehendes Unternehmen definieren. Junge Unternehmen könnten dies noch eher leisten, auch sie werden sich entwickeln und ab einer gewissen Größe bzw. Anzahl Beschäftigter wird auch hier die Grundlage für eine große Sinn-Schnittmenge verschwinden.
Gibt unser Gastautor einer Welt „Sinn-voller Organisationen“, deren Purpose über reine Gewinnmaximierung hinausgeht, noch eine Chance? Oder ist es eine Utopie, eines Tages Mitarbeiter:innen zu haben, die jeden Tag mit Begeisterung und Engagement an Dingen arbeiten, die für sie selbst, das Unternehmen, Kund:innen und vielleicht auch darüber hinaus Sinn und Wert stiften? Mehr dazu im zweiten Teil des Gastbeitrags von Kai Gondlach, demnächst hier im combine Magazin.
Kai Gondlach
Geboren in Schleswig-Holstein, seit 2015 wohnhaft in Leipzig: Kai Gondlach ist akademischer Zukunftsforscher und passionierter Keynote-Speaker. An sein Studium der Soziologie sowie Politik- und Verwaltungswissenschaft schloss er einen Master in Zukunftsforschung an. Nach einigen beruflichen Stationen, darunter u. a. bei der Deutschen Bahn und als Senior Research Fellow in einem großen deutschen Trendforschungsinstitut, widmete er sich in spannenden Forschungs- und Strategieprojekten Unternehmen unterschiedlichster Branchen. Seine Erkenntnisse aus Theorie und Praxis teilte er bereits in über 300 Keynote-Vorträgen. Seit 2019 ist Kai Gondlach selbstständig und u.a. Host des Podcasts „Im Hier und Morgen“. Darüber hinaus engagiert er sich in der Gemeinschaft der akademischen Zukunftsforschenden. Zukunft ist für Kai Gondlach eine Frage der Perspektive, die Gestaltung einer positiven Zukunft für alle ist seine Mission.
Fotos: Pexels, Unsplash