Hippocampus Kolumne 6
In einer regelmäßig im combine Magazin erscheinenden Gast-Kolumne stellt Jan Teunen den Menschen in den Mittelpunkt als inspirierende Gegenthese zur wirtschaftlichen Rationalität.
Was nicht da ist, kann man nicht zählen.
Altes Testament
Daten sind das Gold das 21. Jahrhunderts, heißt es. Weil das viele so sehen, hat in den vergangenen 20 Jahren ein unvergleichlicher Innovationsschub eingesetzt – aber eben auch ein radikaler Wandel. Es entstanden nicht nur komplett neue und höchst erfolgreiche Geschäftsmodelle, die auf dem Datensammeln beruhen. Viele bestehende Unternehmen mussten sich auch fragen, wie man mit der Auswertung von Daten lang erprobte Abläufe verbessern, beschleunigen und günstiger machen kann.
Fraglos hat das für unseren Alltag manch Gutes gebracht. Das beginnt beim Aufwachen. Spezielle Apps, die über das Smartphone den Schlaf überwachen, sind nun in der Lage, uns zum idealen Zeitpunkt zu wecken und nicht inmitten einer Tiefschlafphase. Andere Apps tracken unsere Vitalitätsdaten und erinnern daran, uns gesund zu ernähren und zu bewegen. Big Data hat sogar die Krebsforschung auf eine neue Stufe gehoben, da die strategische Auswertung digitaler Patientenakten dazu geführt hat, Risikokandidat:innen früher zu identifizieren und die Überlebenschancen zu erhöhen. Jede:r Krebspatient:in sorgt während seiner bzw. ihrer medizinischen Betreuung für ein Terabyte digitaler Daten. Kombiniert man diese mit den demografischen Merkmalen, mit Informationen über den Lebensstil und die medizinische Vorgeschichte der Patient:innen, entstehen ganz neue Schlussfolgerungen, millionenfach und weltweit. Auch die Klimaforschung konnte durch Datenanalysen verbessert werden. Dies katapultierte beispielsweise die deutsche Physikerin Friederike Otto auf den Olymp dieser Disziplin. Mit der Analyse einer wachsenden Menge von Wetterdaten schaffte sie das Kunststück, heutigen Extremwetterereignissen nachzuweisen, ob sie in Verbindung mit dem menschengemachten Klimawandel stehen oder nicht – und falls ja, wie groß deren Wahrscheinlichkeit ist.
Sollten wir in Anbetracht dieser gigantischen Vorteile die Nachteile vernachlässigen, die ein paar menschlichen Seelen am Arbeitsplatz zu schaffen machen? Auf keinen Fall. Innovation ist immer mehrdimensional, vor allem, weil das, was sie an positivem Fortkommen bietet, immer auch ins Gegenteil verkehrt werden kann.
Big Data, das extensive Sammeln von Daten zu Erkenntnis-, letztlich aber immer auch zu Geschäftszwecken, hat in den Betrieben ein neues Klima entstehen lassen. Dieser Trend nahm mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert Fahrt auf, als die ersten Stech- und Stempeluhren – auch Arbeiterkontrolluhren genannt – die Belegschaft im großen Stile zu Disziplin und Pünktlichkeit zwangen. Längst findet die Personalzeiterfassung digital statt, per Chipkarte am Eingang der Firma, oder per Software, die auf den Betriebsrechnern vorinstalliert ist. Sollten die alten Stempelkarten schlicht die Rechtzeitigkeit der Produktionsprozesse gewährleisten, führt heute das Tracking von Mitarbeiter:innen in digitalisierten Unternehmen zu einer Form der Übergriffigkeit, die nicht jeder Betriebsrat gut findet.
Im Hintergrund arbeitende Anwendungen können mit Leichtigkeit erfassen, wann der Computer an- und wieder ausgeschaltet wird, wie lange der Ruhemodus in der Mittagspause dauert, wie lange man aktiv welche Programme benutzt, auf welchen Internetseiten man sich herumtreibt, wem man was mailt, ob man innerbetrieblich vernetzt oder ein Einzelgänger ist, oder ob bestimmte inoffizielle Cliquen der Geschäftsführung gefährlich werden können. Hersteller von sogenannten Data-Mining-Systemen beispielsweise versprechen, dass ihre Erfindungen sogar offenlegen, ob ein:e Mitarbeiter:in die Absicht hat, das Unternehmen zu verlassen, und wie man sie oder ihn am besten halten können würde. Es wird allerdings auch einfacher, Gründe für ungerechtfertigte Kündigungen zu sammeln. Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht an der Frankfurt University of Applied Sciences, bewertet: „Data-Mining-Systeme verändern unsere Arbeitswelt. Die gewonnenen Daten und ihre Analyse gehen weit über die Informationen hinaus, die Arbeitgeber:innen für die Verwaltung von Beschäftigungsverhältnissen benötigen.“
Sind sich Arbeitnehmer:innen bewusst oder hegen sie auch nur den Verdacht, dass sie jeden Tag überwacht werden, führt das in jedem Fall zu Misstrauen, nicht selten zu Frustration und innerer Kündigung, im schlimmsten Fall zu psychischen und körperlichen Beschwerden. Wie kommen wir da heraus? Expert:innen sind der Ansicht, dass der Trend des Datensammelns nicht mehr aufzuhalten ist. Daher scheint die Lösung entweder visionären Firmenchefs überlassen oder den Belegschaften – im solidarischen Dialog untereinander und mit der Führung des Unternehmens. Ein Beispiel, von dem man lernen kann, hat der Italiener Dario Azzellini 2018 untersucht. In seinem Buch „Vom Protest zum sozialen Prozess“ folgte er der Hypothese, ob es möglich ist, im Kapitalismus „anders“ zu arbeiten – nämlich nach demokratischen und solidarischen Prämissen. Er untersuchte dazu das weltweite Phänomen der „rückeroberten Betriebe unter Arbeiterkontrolle“.
Das sind von Schließung oder Verlagerung bedrohte Unternehmen, die von ihren Mitarbeiter:innen besetzt wurden, um den Ausverkauf zu verhindern. Azzellini beschreibt, dass die Belegschaften in diesem „politisierenden sozialen Prozess ein kollektives Bewusstsein entwickelten und schließlich für die Übernahme des Betriebs kämpften.“ Das bisherige „Regime der Angst“, so nannte es einer der Betroffenen, das durch die ständige Überwachung entstanden war, wurde ersetzt durch die Selbstverpflichtung der Arbeiterinnen und Arbeiter. „Daraus resultiert eine enorme Freisetzung menschlicher Kreativität“, schreibt Azzellini. Und nicht zuletzt: An die Stelle des höchsten Unternehmenszwecks, den Profit zu steigern, rückte das Wohlbefinden der Arbeiter:innen.
Jetzt soll das kein Aufruf sein, seinen eigenen Betrieb zu besetzen und in Eigenregie weiterzuführen. Aber das Beispiel der „rückeroberten Betriebe unter Arbeiterkontrolle“ zeigt, wie ein enges, gemeinschaftliches Einstehen zu Veränderungen führen kann. Das gilt auch für den Dauerzwist zwischen einem menschenzentrierten und einem datenzentrierten Unternehmensbild. Denn eines scheint sicher: Lassen die Angestellten locker, zieht sich der menschliche Faktor in die Opferrolle zurück, werden die Daten gewinnen!
Jan Teunen ist Co-Autor der Bücher „Officina Humana“ und „Wo die Seele singt“ und Geschäftsführer der Teunen Konzepte GmbH. Als Cultural Capital Producer erarbeitet er für Unternehmen Konzepte, die dazu beitragen sollen, eine nachhaltige Unternehmenskultur zu entwickeln. Laut Teunen erzeugt die Dominanz der rationalen und einseitig auf die Ökonomie zugeschnittenen Arbeitswelt große Reibungsverluste, die die Entfaltung von Kultur behindern. Sein Bestreben ist es, diese Reibung zu reduzieren und damit die Unternehmenskultur und Unternehmen zukunftsfähig zu machen.
Foto Jan Teunen: Hans Schlegel
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